Carpe Diem“ – „Genieße den Tag“, genauer „Pflücke den Tag“ – ist eine der beliebtesten und kürzesten Ratschläge in der Welt der Lebenskunst. Horaz gab diese Empfehlung als Antwort auf die Flüchtigkeit und Unberechenbarkeit des Lebens. „Vertraue möglichst wenig auf den folgenden“ geht es weiter. Mir hat das immer eingeleuchtet. Die Zeit ist kostbar, das Leben kurz. Wir können den Tod antizipieren und diese Fähigkeit formt unser Dasein. Dieser Gedanke liegt der Existenzialphilosophie zu Grunde. Umgekehrt: Wäre das Leben unendlich, wäre dann der einzelne Tag noch wichtig? Man könnte alles verschieben und wiederholen, v. a. wenn nicht nur der Tod, sondern auch das Altern abgeschafft wäre. Vor kurzem hat Hans-Markus Gauß, ein Autor, den ich sehr schätze, dieses Gedankenexperiment unter der Überschrift „Tod dem Tod“ noch einmal formuliert: „Gerade, weil es endlich und unwiederholbar ist, ist unser Leben kostbar. Würde es nur immer weitergehen und weitergehen in alle Ewigkeit, könnte es weder Sinn noch Würde oder Schönheit haben.“[1]
Gauß schrieb diese Sätze aus aktuellem Anlass. Er meldete Bedenken gegen die mögliche Unsterblichkeit an, die die Erforschung des Alters in Aussicht stellt. Was bislang nur ein Gedankenexperiment war, ist wahrscheinlich in absehbarer Zeit Realität.[2] Dem Alter geht es an den Kragen. Immer mehr Energie, Aufmerksamkeit und neuerdings auch künstliche Intelligenz und Geld werden für die Erforschung des Alterns eingesetzt. David Sinclair sieht das Alter als eine elementare Krankheit an, die viele andere Erkrankungen (Arthrosen, Herzerkrankungen, Krebserkrankungen, Alzheimer usw.) erst so häufig macht wie sie es sind. Der Altersprozess wird nun durchschaubar und behandelbar. Die Lebenserwartung könnte in den nächsten Jahrzehnten zunächst auf durchschnittlich 150 Jahre steigen, bevor der Tod dann kein zwangsläufiger Ausgang des Lebens mehr ist. In einem weiteren Schritt wird auch bereits an Verjüngung gedacht, denn die ursprüngliche DNA altert nicht. Man sagt, es seien nur Eingriffe in die Epigenetik notwendig. Wenn wir an dem „Carpe Diem“ festhalten, so müsste uns nun angesichts der Aussicht auf den „Tod des Todes“ Angst und Bange werden. Aber vielleicht ist es nur eine Gewohnheit, so zu denken.
Mein Sohn Arkadi sorgt dafür, dass die großen technologischen Veränderungen und Perspektiven nicht spurlos an mir vorbei gehen. Er hat mir das Buch über die Erforschung und Abschaffung des Alters geschenkt, das ich hier zitiere. Mein Carpe-Diem-Argument hat ihm nicht eingeleuchtet. Warum sollte ich mich weniger über den Anblick des Meeres freuen, auch wenn ich weiß, dass ich es immer wieder sehen kann? Ist die Welt nicht vielfältig genug und ändert sich ständig? Ich musste zugeben, dass ich das Angebot eines ewigen Lebens in guter Verfassung annehmen würde. Und als ich weiter darüber nachdachte, fiel mir auch ein, warum. Zunächst: Ich bin eben auch ein Lebewesen, eine Kreatur, die leben will, wenn nichts Gravierendes dagegen spricht. Aber interessanter fand ich folgende Überlegung: Sind die Erfahrungen, die mein Leben reich machen, nicht auch von sich aus wertvoll genug, schenken sie mir nicht „Sinn“ und „Schönheit“, was auch immer ich gerade über meine Zukunft weiß und denke? Ist das Carpe Diem nicht auch eine Ablenkung von dem, was gerade geschieht? Trübt die ewige Sorge um mich nicht meinen Blick und gibt meinem Erleben etwas Bemühtes? Vielleicht lässt sich das „Carpe Diem“ auch mit der Idee verbinden, dass der Tod nicht gebraucht wird und dass er gehen kann.
[1] Süddeutsche Zeitung, Nr. 296, 23.-26. Dez. 2023, S. 5
[2] David A. Sinclair. Das Ende des Alterns. Die revolutionäre Medizin von morgen. Köln: DuMont; 2023.
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