„Ich verstehe Dich“ (Dichte Begriffe II)

„Ich verstehe Dich“ oder „Ich kann Dich verstehen“ scheinen auf den ersten Blick klare, einfache Sätze. Sie teilen zunächst einmal mit, dass man das, was einem mitgeteilt wurde, im Wesentlichen verstanden hat. Natürlich hat man nicht alles verstanden, was der Andere gesagt hat, nicht alle Bedeutungen und Hintergründe erfasst, aber doch das, worauf es ankommt. Auf einen zweiten Blick bedeuten diese Sätze noch mehr als die Mitteilung des eigenen Vermögens und der eigenen Reaktion. Sie drücken auch aus, dass man sich dem Anderen zuwendet, Interesse an ihm hat, ihm zuhört, Zeit investiert, eine gewisse Nähe akzeptiert oder wünscht, mitdenkt und mitfühlt. Das ist viel und macht den Satz zu einer starken Form von Zuwendung.

Nun kann man aber einen dritten Blick auf die Sätze werfen und dann wird es ein wenig komplizierter. Vergleichen wir zwei Varianten miteinander: „Ich verstehe Dich.“ – „Ich verstehe, was Du sagst.“ Das ist nicht dasselbe. Der erste Satz ist eine „dichte“ Formulierung, der zweite Satz nicht. Man spricht von einem „dichten Begriff“, wenn man einen Begriff verwendet, der gleichzeitig eine Beschreibung und eine Bewertung ist, wobei sich das eine von dem Anderen nicht trennen lässt. Ich habe das in einem anderen Blog mit dem Titel „Dichte Begriffe I“ genauer dargestellt. Ich denke, man kann das Konzept auch auf Sätze und Formulierungen anwenden. „Ich verstehe Dich“ tendiert zu einer dichten Formulierung. „Tendiert“, weil sie Spielraum lässt. In diesem Falle impliziert der Satz Stellungnahmen wie „Ich bin auf Deiner Seite“, „Ich finde, Du hast recht“, „Ich sehe es genauso wie Du“. Demgegenüber ist „Ich verstehe, was Du sagst“, schon fast eine Distanzierung. So spricht man eher, wenn man zwar die Perspektive des Anderen vorübergehend einnimmt, dann aber wieder auf Abstand gehen und es offenlassen will, ob man die Sichtweise wirklich teilt.

Ganz klar wird der Unterschied, wenn jemand sagt: „Ich kann ihn (sie, das) nicht verstehen!“ Oder „Ich kann nicht verstehen wie man so etwas tun (sagen, glauben, meinen usw.) kann!“ Auch das sind dichte Sätze, denn sie beinhalten eine Beschreibung der eigenen Situation und gleichzeitig eine negative Beurteilung der Perspektive oder Handlungsweise des Anderen. Dabei ist es auch nicht so wichtig, ob man wirklich gar nicht versteht, was der Andere tut, plant oder sagt. Wichtiger ist, dass man es für abwegig hält, so abwegig, dass man sich vielleicht gar nicht mehr damit beschäftigen mag.

Dass es sich bei diesen Formulierungen um positive oder negative Bewertungen innerhalb deskriptiver Formulierungen handelt, ist im Alltag wichtig. Aus dieser Mischung entstehen Missverständnisse, Belastungen für Beziehungen und ein Verlust von Freiheit und kreativer Flexibilität im Umgang miteinander. Missverständnisse, weil jemand als gemeinsame Sichtweise verstehen kann, was doch eigentlich nur ein Verstehen im engeren Sinne ist, die durchaus mit Zuwendung verbunden ist, nicht aber mit Einverständnis. Oft ist bei A, dem Sprecher, die Erwartung vorhanden, dass B, der Zuhörer, nicht nur versteht, sondern auch die eigene Perspektive teilt. Wenn sich beide hier nicht einig sind, welchen Sinn von „Ich verstehe Dich“ sie jeweils meinen (dicht oder nicht), sind Enttäuschungen zu erwarten. Umgekehrt kann jemand, der auf die Frage „Kannst Du mich verstehen?“ mit „Ja, tue ich“ antwortet, sich bedrängt fühlen. Je höher die Erwartung an Harmonie und Übereinstimmung, um so einengender die Erwartung des Satzes: „Ich verstehe Dich“ in der dichten Form. Man verliert die Freiheit, zu verstehen und gleichzeitig anderer Meinung zu sein. Diese Freiheit in einer auf Harmonie ausgelegten Gemeinschaft oder Begegnung zu bewahren, ist schwer. Es gibt einen Trend und tendenziell eine Verpflichtung, jede subjektive Sichtweise zunächst einmal zu bestätigen. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Gesellschaft, aber auch in Psychotherapie und Beratung immer mehr verstärkt und bedeutet auch eine mehr oder weniger explizite Abwendung von den älteren, psychoanalytisch und später kognitiv verhaltenstherapeutisch geprägten kritischeren und distanzierteren Haltungen gegenüber den Sichtweisen der Patient:innen oder Klient:innen. Zu dieser skeptischen Haltung fühlten sich die Psychotherapeut:innen schon alleine deswegen berechtigt, weil die Betroffenen psychotherapeutische Hilfe suchten. Sie zeigten damit ja, dass sie nicht nur Probleme hatten, mit den Herausforderungen des Lebens zurecht zu kommen, sondern sich vor allem im Irrgarten der Subjektivität verlaufen hatten. Die humanistisch-systemisch-hypnotherapeutische Tradition stärkt dagegen die Position des Subjekts und seiner konstruktiven Rechte und Fähigkeiten. Sie ist im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs zu Kommunikation und psychosozialer Arbeit meinungsbildend geworden. Die therapeutische Weisheit liegt vermutlich in einem flexiblen Umgang mit der deskriptiven und der dichten Bedeutung des Verstehens. 

Das Problem ist, dass „Ich verstehe Dich“ in der dichten Form kritisches Nachfragen und produktive Meinungsverschiedenheiten erschwert. Sie drohen in der dichten Aura des Satzes unterzugehen. Das kann aber gerade das Verstehen behindern, weil Nachfragen eigentlich für das Verstehen notwendig wären, aber unterbleiben. Es kommt hier sehr auf die Form des Nachfragens an. Ist es vor allem auf ein besseres Verstehen des Gemeinten gerichtet oder beinhaltet es auch den Hinweis auf möglicherweise vernachlässigte Aspekte oder Deutungen, die die subjektive Perspektive erweitern sollen. Folgt man nur dem dichten Sinne von „Ich verstehe Dich“, wird der Satz in erster Linie zu einem Bekenntnis zu einer Beziehung, zu Loyalität und Unterstützung. Möglicherweise täuschen sich die Gesprächspartner dabei darüber hinweg, dass Menschen einander nie wirklich verstehen, weil Subjektivität qualitativ unendlich ist und sich auch ständig, auch während des Gesprächs, schon verändern kann. Dann kann die dichte Bedeutung des Verstehens eine Vertiefung des Gesprächs, eine tiefere Begegnung verhindern. Manchmal ist natürlich auch genau diese unmittelbare Unterstützung gefragt und der Zeitpunkt für eine Nachfrage denkbar ungünstig. Aber es kann sein, dass dann rasch in Vergessenheit gerät, dass man den Anderen nicht wirklich verstanden hat.

Das gilt leider auch für den umgekehrten Fall und der ist bedauerlicher. „Ich kann das nicht verstehen“ im Sinne von „Wie konnte er nur!“ Hier dient die Mitteilung des Unverständnisses in erster Linie der Ablehnung der Denk- oder Handlungsweise des Anderen und verschluckt die Möglichkeit, dass doch vielleicht mehr Verstehen möglich wäre, würde man es denn wollen. Das Verhalten oder die Mitteilungen des Anderen werden ganz und gar aus dem Verstehen ausgeschlossen und die Chance, sie wenigstens teilweise nachzuvollziehen, bleibt ungenutzt. Das befördert und festigt den Konflikt. Man würde sich wohl manchmal leichter auf ein Verstehen einlassen, wenn nicht die Gefahr im Raum stünde, als würde man die Position des Anderen aufwerten und die eigene, abweichende, schwächen oder auch nur die Befürchtung, dass man von dem Anderen oder Dritten so verstanden werden könnte. Man sieht oft in politischen Kontexten diese Befürchtung und den entsprechenden Vorwurf am Werke: Du verstehst den politischen Gegner? Du scheinst nicht loyal zu sein. Das trägt zur Verhärtung und zur Sinnlosigkeit mancher Diskussionen und Talk Shows bei. Das Verstehen von der Pflicht zur Parteilichkeit zu befreien, würde zur Weiterentwicklung der Demokratie beitragen. Dichte Begriffe oder Formulierungen scheinen oft Abkürzungen und Vereinfachungen zu sein, wenn wir sie nicht durchschauen. Das widerspricht nicht der Annahme, dass sie zunächst einmal unverzichtbar sind für die Gesellschaft und den Common Sense.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert