In einer ungeduldigen Gesellschaft hat die Geduld ein hohes Ansehen. Das gilt insbesondere dort, wo das gute oder richtige Leben zur Diskussion steht. Geduld ist sehr beliebt und gilt als sympathische Eigenschaft, Ungeduld eher nicht. Geduld scheint geeignet, einen freundlichen und rücksichtsvollen Umgang miteinander zu fördern. Wenn wir gegenüber anderen Menschen Geduld zeigen, so bedeutet das, dass wir ihr Tempo respektieren, sie nicht unter Zeitdruck setzen, kooperativ sind. Geduld ist eine Form von Empathie und zeigt die Bereitschaft, sich an andere Menschen anzupassen. Deswegen gehört sie ins Umfeld der Achtsamkeit, sie folgt aus ihr. Geduld ist besonders hilfreich, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die langsamer sind und von unserer Eigenzeit des Denkens, Handelns und auch Fühlens abweichen. So braucht es viel Geduld, wenn Kinder anfangen, sich die Schuhe selbst anzuziehen: Sie orientieren sich nicht an unserer Zeitplanung, an Uhrzeiten und statt in der unmittelbaren Zukunft bewegen sie sich in der Gegenwart. Sie lassen sich leicht ablenken, erzählen, fragen und verlieren die ohnehin nicht so hoch geschätzte Aufgabe aus den Augen.
Geduld mag mit Beschwerlichkeiten einhergehen, man muss ja auch durchhalten. Aber anders als Akzeptanz ist Geduld grundsätzlich optimistisch und vertrauensvoll: „Es wird schon, man muss nur Geduld haben.“ Aber es gibt wohl keine Geduld ohne etwas Ungeduld und keine Ungeduld mit etwas Geduld.
Aber das ist nicht alles: Geduld ist ein mindestens dreistelliger Begriff. Man kann Geduld mit Menschen haben, aber auch mit Dingen oder besser Prozessen und drittens auch mit sich selbst. Aber zunächst zu den Dingen: Schuhe anzuziehen und am Ende auch noch zu binden, ist für kleine Kinder alles andere als leicht. Erstaunlich wie leicht das Erwachsene hinbekommen. Viele Dinge fordern Geduld: Internetverbindungen, Arzttermine und Wartezeiten, Heilungen, bürokratische Prozesse, Verkehrsstaus. Geduld und Ungeduld sind wie Achtsamkeit Haltungen, die mit einem starken, auch körperlichen, Gefühl verbunden sind, das sich nicht so einfach nach der Realität und der Vernunft ausrichten lässt.
Ungeduld hat ein wirklich schlechtes Image. Sie scheint sich auch mit der Haltung der Achtsamkeit nicht zu vertragen, weil wir ungeduldig immer schon der Zeit voraus sind und es so scheint als könnten wir nicht in der Gegenwart bleiben und den Fluss der Menschen und Dinge akzeptieren.
Aber diese Sichtweise scheint mir zu einfach. Kehren wir nochmal zur Achtsamkeit als mögliche Wegbereiterin der Geduld zurück. Wenn wir die Haltung der Achtsamkeit nicht nur auf unsere Mitmenschen richten, sondern auch auf die Welt, so kann es uns passieren, dass wir Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Welt wahrnehmen, die zum mentalen, emotionalen Timing unserer Mitmenschen nicht passen. Achtsamkeit auf die Notwendigkeiten der Welt und Achtsamkeit auf die Mitmenschen können sich in die Quere kommen. Die Klimaschützer, die Autobahnen blockieren, verletzen die berechtigten Interessen ihrer Mitmenschen in angemessener Zeit ihre Ziele zu erreichen, weil sie die Dringlichkeit der Rettung des Planeten wichtiger finden und ziemlich wahrscheinlich realistisch einschätzen. Es kann sein, dass man eine Frist für einen wichtigen Antrag einhalten muss und wichtige Mitarbeiter die Dringlichkeit nicht verstehen. Ungeduld tritt dann auf, wenn die Zeitlichkeit unserer Erwartungen nicht mit der Zeitlichkeit der Menschen und Dinge übereinstimmt, wir aber an unseren Erwartungen bewusst oder unbewusst festhalten. Wir erleben Ungeduld als äußere Dringlichkeit und als innere Unruhe. Sie hat im Wesentlichen nichts mit Langsamkeit oder Schnelligkeit zu tun, sondern ist eine Relation zwischen Erwartung und Realität. Man könnte auch sagen, sie ist das Scheitern einer Synchronisierung. Dieses Scheitern kann ärgerlich sein, quälend, aber auch einfach unvermeidlich und erhellend. Wir können auch achtsam ungeduldig sein.
Ist es nicht wichtig, den Dringlichkeiten der Welt eine große Bedeutung beizumessen? Viele Missstände werden seit Jahrzehnten nicht ernsthaft angepackt: Die Zwei-Klassenmedizin, die Ungleichheit der Bildungschancen, die ungerechten Handelsbeziehungen zwischen reichen und armen Ländern und vieles andere. Im kleineren Maßstab: schädliche Beziehungsmuster, die geduldet werden, Abhängigkeit, die verharmlost wird, Arbeitsplätze, die eine Zumutung sind, Versprechungen, die nie erfüllt werden. Achtsamkeit und Ungeduld gegenüber solchen Vorgängen kann in Konflikt geraten mit Achtsamkeit und Geduld mit Menschen, die diese Dringlichkeiten nicht sehen. Entscheiden wir uns in diesen großen wie kleinen Konflikten regelhaft für die Geduld, weil sie leicht und unmittelbar angewendet werden kann, weil sie unvermeidlich erscheint oder weil sie uns Anerkennung und Sympathien beschert, dann geht unter Umständen nichts voran. Da man nicht nicht kommunizieren kann, besteht unser impliziter Kommentar dann darin, dass eine Veränderung nicht so wichtig oder nicht so eilig ist, mag der Status quo auch noch viel Leid verursachen und vielleicht auch die Zukunft endgültig verbauen.
Auch Ungeduld gegenüber Dingen und Prozessen kann produktiv sein. Deshalb fahren wir nicht mehr beschwerlich mit Kutschen über die Alpen. Sie kann auf Kosten der Menschen gehen. Ford hat mit dem Fließband die Produktion von PKWs beschleunigt. Handys sind erfunden worden, die die Kommunikation enorm erleichtert und beschleunigt haben, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Ungeduld gegenüber der Welt gilt nicht unbedingt den Menschen. Die Entwicklung eines wirklich effektiven Mittels gegen die Alzheimer-Erkrankung dauert eindeutig zu lange. Das liegt sicher nicht an den Menschen, die sich darum bemühen, sondern an der Komplexität der Sache und vielen gesellschaftlichen Bedingungen. Man kann mit Entwicklungen wie mit Menschen ungeduldig sein, wenn man Notwendigkeiten und Möglichkeiten erkennt.
Aber es gibt noch eine dritte Ausrichtung der Geduld oder Ungeduld: Die Geduld und Ungeduld mit sich selbst. Das Thema ist sicher gerade besonders aktuell, aber auch ein wenig komplizierter. Es ist heute leicht, mit sich ungeduldig zu werden. Das liegt zum Einen an den Anforderungen, die an uns gestellt werden und die wir übernehmen oder übernehmen müssen, zum Anderen an dem gesellschaftlichen Klima, in dem die Selbstoptimierung gedeiht. Man kann mit sich ungeduldig werden, weil man bestimmte Arbeiten zu langsam erledigt, zu langsam lernt, in seiner Arbeitskarriere hinter den Altersgenossen zurückliegt, seine To-Do-Liste nicht schafft usw. Wenn die Ungeduld von außen kommt und transparent ist, ist sie oft leicht abzuwehren. Man spürt, dass man es mit der Ungeduld anderer zu tun hat und dass man unter Druck gesetzt wird. Schwierig wird es, wenn sie nicht transparent ist, weil sie als Gewohnheit und anonyme Anforderung daherkommt. Es ist schwer, dann nicht ungeduldig mit sich zu werden.
Wenn man die Ungeduld aber selbst übernimmt oder gar selbst entwickelt, wird es kompliziert. Nun hat man plötzlich ein Doppelleben. Man ist der Teil der Persönlichkeit, der mit sich geduldig oder ungeduldig ist und der Teil, der das Objekt der Geduld oder Ungeduld ist. Ist man mit sich selbst ungeduldig und identifiziert sich man sich mit diesem ungeduldigen Anteil, so ist man schon der oder die, die man eigentlich sein will. Man ist Teil des Ideal-Ichs und profitiert davon, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen, wenn man sich selbst bedrängt. Es kann sein, dass man nun kritischer und drängender mit sich selbst wird als es andere oder die Umstände überhaupt verlangen. Das kann zu einer Form von negativem Narzissmus führen, zu übertriebener Selbstkritik, die weniger an der Wirklichkeit interessiert ist als an der eigenen Ökonomie des Selbstbewusstseins. Das Gleiche geschieht, wenn man sich mit Geduld begegnet, wo Ungeduld angemessener wäre, nur dass sich in diesem Fall der unkompliziertere positive Narzissmus durchsetzt. Und schließlich kann hinter der Geduld mit sich selbst auch Resignation stecken[i]. Das Thema scheint unerschöpflich.
Alles, was ich oben an Überlegungen angestellt habe, gilt auch für die Geduld und Ungeduld mit sich selbst. Wenn man die Dimension des zeitlichen Umgangs mit Dingen, Prozessen, Notwendigkeiten und Möglichkeiten hinzunimmt, dann ist es nicht mehr eindeutig, dass Geduld stets die bessere Haltung ist. Es ist wie bei der Achtsamkeit und allen anderen Haltungen und Gefühlen: Erst der Kontext entscheidet darüber, welches Gefühl oder welche Haltung angemessen sind. Die Bewertung von Geduld und Ungeduld kann nur je nach Situation und aus moralischer Perspektive getroffen werden. Die sympathischere Haltung und das sympathischere Gefühl sind nicht immer die effektiveren und moralisch besseren. Effektivität und gutes Timing in Bezug auf die Ansprüche der Welt können moralisch wertvoller sein als die Geduld mit Menschen und mit sich selbst.
[i] Für diese Überlegung und weitere hilfreiche Kommentare zu diesem Text danke ich Amira Frohwein.
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