Alter und Tod (Die fatale soziale Konstruktion des Alters II)

Wenig scheint so selbstverständlich wie der Zusammenhang zwischen Alter und Tod. Alte Menschen sind dem Tod näher als junge Menschen.
Die „Lebenserwartung“ sinkt mit dem Alter. In der heutigen Zeit ist diese Aussage in den Industriestaaten des globalen Nordens in Friedenszeiten sicher richtig. Dieser statistische Zusammenhang beruht auf einer allmählichen Veränderung des Immunsystems, der Durchblutung, der Prozesse in den Zellen usw. Diese Veränderungen sind schon viel früher wirksam, weshalb eben auch schon Menschen Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Krebserkrankungen in einem biologischen Alter bekommen, in dem man sie nicht im allgemeinen Sinne als „alt“ beschreiben würde. Dabei spielen natürlich auch genetische Ursachen und spezifische Belastungen eine Rolle, die sich eher früh auswirken.

Die Menschen sterben in (vermutlich) allen Kulturen überwiegend nicht am Alter, sondern an Krankheiten oder Unfällen und Gewalteinwirkungen. Viele und gerade viele schwere Krankheiten nehmen allerdings auf Grund des Alters an Häufigkeit zu, nicht unbedingt an Gefährlichkeit, denn manche onkologischen Erkrankungen verlieren im Alter an Aggressivität. Meines Wissens gibt es nahezu keine Krankheit, die ausschließlich im Alter auftritt. Erst in einem sehr hohen numerischen Alter scheint der Mensch an körperlicher Schwäche zu sterben, ohne dass er erkrankt.

Die Auffassung von der bemerkenswert verkürzten Lebenserwartung eines alternden Menschen hat praktische Folgen. Wer wird einem 75-jährigen eine Ausbildung oder ein Studium finanzieren? Wer wird ihn zur Gründung einer Familie ermutigen? Der Rat dürfte eher sein, sich Gedanken um sein Erbe und eine gute pflegerische Betreuung zu machen. Neben der zunehmenden körperlichen Schwäche ist sicher die geringe Lebenserwartung das nächstliegende Argument. Dazu kommt das Bild der allgemeinen Schwäche im Alter, die sich auch auf das Denken, die Emotionalität, den Antrieb, also kurzum auf die Psyche bezieht. Ich habe die Folgen dieses Bildes auf die Lebenssituation alter Menschen und die Rückwirkungen des Lebensstils auf das Deutungsmuster „Alter“ in Teil I dieses Blogs über „Die fatale soziale Konstruktion des Alters“ skizziert. Die Betonung der Todesnähe ist ein wesentlicher Teil dieses Bildes.

Die Allmählichkeit der körperlichen Veränderungen und die Zunahme der Häufigkeit macht es schwer, eine Lebensphase abzugrenzen, die man „Alter“ nennen könnte. Das ist nichts Besonderes, es gilt für viele lebensweltliche Begriffe wie „arm“, „reich“, „gebildet“, „fleißig“ usw. Es spricht nicht gegen die Verwendung solcher Begriffe. Aber gerade wegen ihrer Vieldeutigkeit und ihrer praktischen Bedeutung ist es interessant, sie sich genauer anzuschauen. Wegen der Unbestimmtheit ist es auch für die soziale Konstruktion des Alters nicht wesentlich, dass sich die Vorstellung des biologischen Alters verändert. Sicher entspricht das Alter von 70 heute eher dem Alter von 60 vor vielleicht 20 Jahren, und was sich die Beatles in den 1960ern unter einem Menschen von 64 vorgestellt haben, passt heute wohl besser zu einem Menschen von 84.
Die vielen Geschichten über die verblüffenden Fähigkeiten alter Menschen bestätigen eher die Idee des „Alters“ als einer definierbaren Lebensphase, die auf einer Abnahme an Fähigkeiten und Erwartungen an ein entsprechendes Verhalten beruht. Welche Rolle spielt dabei die Assoziation von Alter und Tod? Warum ist sie so wichtig und warum ist sie in früheren Lebensphasen, in denen wir ebenfalls gefährdet sind, so unwichtig? 

Man könnte sagen, dass der Tod deswegen so eine große Rolle für das Bild des Alters spielt, weil alte Menschen sich selbst vermehrt mit dem Tod beschäftigen. Das wäre tatsächlich ein wichtiges Argument. Es liegt auch sehr nahe. Wieso sollten sie es nicht tun, wenn der Tod doch immer näher rückt? Ich behaupte und kann es leider nicht belegen, dass der Tod für alte Menschen eine viel geringere Rolle spielt, als man erwarten würde, solange sie gesund sind und ein aktives Leben führen. Ich kenne dafür allerdings viele Beispiele. Ebenso könnte ich auch Beispiele dafür anführen wie wichtig das Thema des Todes für Menschen in Kindheit, Jugend und mittlerem Alter ist. Wie sehr ein Mensch sich mit diesem Thema beschäftigt, hängt meines Erachtens sehr von seiner Persönlichkeit, seiner Geschichte und seiner Lebenssituation ab. Es gibt Menschen, die sich schon in der Grundschulzeit mit dem Tod beschäftigen und andere, die es mit 85 noch nicht tun oder gerade mal damit anfangen. Ich kenne Menschen, die im hohen Alter so sparsam leben, als müssten sie noch für die nächsten 30 Jahre vorsorgen, die sich empören, wenn ihnen ihre Gelenke schmerzen oder die sich mit 95 nicht vorstellen können, das Autofahren aufzugeben. Nicht weil sie sich für so fit halten, sondern einfach, weil sie dem Alltagsprinzip folgen, das Alfred Schütz einmal das „Und-so-weiter“- Prinzip des Alltags genannt hat. Es fällt uns sehr schwer, uns vorzustellen, dass das Leben nicht einfach so weiter geht, obwohl wir in jedem Lebensalter sehen, dass genau das passiert. Manche Menschen machen sich ihr Leben lang Gedanken über ihre Leistungsfähigkeit oder ihre Verletzlichkeit, andere erst dann, wenn sie mit dem Tod anderer Menschen konfrontiert werden oder wenn ihr eigenes Leben in Gefahr ist.

Kürzlich kam ich ins Gespräch mit einem Radfahrer, der in einer kleinen Gruppe in den Alpen unterwegs war, zwei Männer, zwei Frauen etwa im Alter von 65-70, sehr sportlich ausgestattet. Er erzählte mir, dass sie vorhaben, von Oberbayern über Kufstein und Innsbruck in das Oberengadin zu radeln – und zurück. Ich reagiere anerkennend und er fügt lächelnd hinzu: „Klar, solange es noch geht!“ Ich denke, dass sehr viele Menschen, „solange es noch geht“, einfach ihr Leben führen – in dem vagen Bewusstsein der Endlichkeit – und dass sie sich erstaunlich wenig ernsthaft mit der Möglichkeit von Krankheit und Tod beschäftigen – solange sie das nicht müssen. Das Erlebnis der Endlichkeit hat zudem gar nichts mit dem Alter zu tun. „Solange es noch geht“ hätten auch ein Tennisprofi oder Fußballspieler mit 30 sagen können, Menschen, die sich mit 30 für ein Studium oder eine Ausbildung bewerben. Alle diese Überlegungen machen es m. E. fraglicher, ob die Themen der Endlichkeit und des Todes dem numerischen Alter zugeordnet werden kann.

Aber es geschieht, als soziales Konstrukt und als gesellschaftliche Praxis – in Form einer Zuordnung und einer Verschiebung. Es gibt eine gesellschaftliche Verschiebung des Themas des Todes in das Alter, in Krankenhäuser, Altenheime und Hospize. Sie macht den Tod zu einer ungewöhnlichen Erfahrung. Er findet an Orten statt, in denen sich vor allem alte Menschen aufhalten. Das hilft uns, über den statistischen Zusammenhang hinaus den Tod mit dem Alter zu assoziieren. Das wiederum erleichtert es uns, (in reichen Ländern und Friedenszeiten, ich wiederhole mich) lange Zeit die Möglichkeit bei Seite zu legen, dass das „Und-so-weiter“ in jedem Lebensalter rasch widerlegt werden kann. Im Reich der Alten ist der Tod gut aufgehoben. Wer wirklich alt geworden ist, derzeit sagen wir klar die 80 überschritten hat, sollte sich doch des Themas annehmen. Er ist qua Alter zuständig für das Thema und sollte auch eine gewisse Kompetenz zeigen, damit umzugehen. Wer alt ist, kann ja doch viel eher dankbar und zufrieden sein, dass sie oder er so lange auf dieser Erde wandeln durfte, im besten Falle also „lebenssatt“ und zufrieden ins Grab steigen. Und wenn sein Leben nicht so befriedigend verlaufen ist, so ist es nun Zeit, sich damit abzufinden, zu versöhnen und zu akzeptieren, dass man seine Chance gehabt hat und das Leben nun mal schwer und selten rundum glücklich ist. Der Stolz auf die Fähigkeit zu überleben, die Kampfbereitschaft, die Leistungen, da bleibt doch immer etwas. Und schließlich: Wenn doch das Leben nicht mehr viel zu bieten hat außer der Perspektive auf Leid und Siechtum, so ist doch der Tod irgendwann eine „Erlösung“ oder ein Schutz vor Schlimmerem. Der Tod ist ein Joker im Konzept des Alters. Was immer geschieht, der Tod rückt alles in ein sanfteres Licht. Man muss nur die Augen aufmachen, ein wenig Weisheit zeigen. Und für alle Anderen: Wie schlecht es auch immer um die Lebenssituation des alten Menschen bestellt ist, das Elend geht ja seinem Ende entgegen.

Die Verbindung der verminderten Leistungsfähigkeit mit der geringeren Lebenserwartung trägt zu der komplexen sozialen Konstruktion des Alters bei. Sie ist in unseren leistungsorientierten Gesellschaften mit einer Konnotation der Nutzlosigkeit und des Bedauerns versehen und ggf. auch mit einer Form von Verkindlichung. Kinder sind in ähnlicher Weise nutzlos, aber immerhin sind sie die Zukunft. Natürlich spielen hier auch andere Entwicklungen eine Rolle:
Die Beschleunigung der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung, die so etwas wie „Lebenserfahrung“ oder „Berufserfahrung“ entwertet, das historische Versagen früherer Generationen, zumindest in Deutschland, die Vorstellungen von Attraktivität, die Vereinsamung, die ein immer größeres Problem wird, die geringe Mobilität, die heute so wichtig geworden ist und es oft sogar schwer macht, den Kontakt zu den Kindern und Enkelkindern zu halten.

Deswegen ist für alte Menschen eher Dankbarkeit noch existieren zu dürfen angesagt als weitergehende Wünsche. Bis vor kurzem hat die geforderte Bescheidenheit gut zu dem Selbstbild ganzer Generationen gepasst. Diese Passung könnte schwinden. Aber die Rollenzuschreibung ist stark und das gesellschaftliche Ansehen des Nutzens und der Funktionalität scheint nicht abzunehmen, obwohl es dringend geboten wäre, sie nicht einfach hinzunehmen, sondern auf ihre qualitative Berechtigung zu befragen. Noch kann man in der Regel davon ausgehen, dass sich die alten Menschen und ihre jüngeren Zeitgenossen immer noch in ihrem Bild des Alters einig sind.

Das Bild des Alters als allgemeines Verlöschen, als beschleunigtes Leben zum Tode, als weitgehend nutzlos und leidvoll, ist einfach zu konsistent und plausibel und auch zu praktisch, um die Lebenssituation alter Menschen zu rechtfertigen, als dass man es leicht in Frage stellen könnte. Es lässt sich durch Fakten untermauern, insbesondere wenn man das Alter unmittelbar für den Tod verantwortlich macht. Das Alter ist sozusagen das Gegenbild des schöpferisch, kraftvoll und effektiv in die Zukunft schauenden jungen Menschen und beide Bilder leben voneinander. Die wechselseitige Anerkennung geht auf Kosten beider Lebensalter. An dieser Stelle wäre es sinnvoll, mit einem Text über die soziale Konstruktion der Jugend fortzufahren. Ich denke, sie hindert auch viele Jugendliche und junge Erwachsene daran, ihr eigenes Leben zu führen. In der Jugend muss man etwas erleben, abenteuerlustig und draufgängerisch sein, neugierig, seine Karriere in die Gänge bringen oder wenigstens feiern, nichts verpassen. Wenn man eine Familie gründet, beginnt der Ernst des Lebens, was man entsprechend tunlichst hinausschiebt, usw. Jedes Lebensalter hat die Bürde seines sozialen Stereotyps zu tragen und verhält sich oft entsprechend.  Ausnahmen von all diesen Vorurteilen und Mitgaben sind selten und umso erfreulicher. Peter Fox versucht in seinem „Haus am See“ ein wohltuendes Durcheinander. Er schrieb den Text mit 38:  

„Und am Ende der Straße steht ein Haus am See
Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg
Ich hab‘ zwanzig Kinder, meine Frau ist schön
Mhh, alle komm’n vorbei, ich brauch‘ nie rauszugeh’n

Hier bin ich gebor’n, hier werd‘ ich begraben
Hab‘ taube Ohren, ’n weißen Bart und sitz‘ im Garten
Meine hundert Enkel spiel’n Cricket auf’m Rasen
Wenn ich so daran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwart’n“

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