Kürzlich sprach ich mit jemandem, der sich häufig von AfD-Anhängern und Verschwörungstheoretikern belästigt fühlt. Sie könne ihnen beruflich nicht so einfach ausweichen und müsse sich zumindest eine Zeitlang diese teilweiseabsurden und vor allem aggressiven Tiraden anhören. Sie finde das sinnlos und wolle das Gespräch so schnell wie möglich beenden. Wir sprachen darüber, ob es Sinn mache, mit diesen Leuten zu reden. Diese Frage taucht auch in den Medien immer wieder auf. Soll man das Gespräch mit den Menschen suchen, die sich vorstellen können, AfD zu wählen? Es handelt sich immerhin um mehr als 15 % der Bevölkerung, in manchen Gegenden sind es eindeutig mehr. Hat das Sinn oder ist es Zeitverschwendung? Sind Anhänger der AfD, Verschwörungstheoretiker oder gar Reichsbürger für Argumente und andere Perspektiven offen oder ist hier Hopfen und Malz verloren? Bestärken wir sie vielleicht in ihrer Weltsicht, wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken oder wenn wir ihnen widersprechen und sie damit einladen, ihre Position zu begründen und zu stärken?
Mir scheint die Frage das Problem zu sein, nicht die Antwort. Die Frage setzt eins voraus: Es gibt „AfD-Anhänger“, „Verschwörungstheoretiker“, „Reichsbürger“. Habe ich das erst einmal vorausgesetzt, habe ich ein Problem. Ich habe sicher gute Argumente dafür, ein Individuum so einzuordnen, aber ich habe damit auch mein Interesse erheblich begrenzt. Nun haben wir in der Achtsamkeitspraxis einen Vorschlag, der häufig nützlich ist: Wenn Du merkst, dass Deine Aufmerksamkeit fokussiert ist – oft geschieht das ganz von selbst – so frage Dich: „Und was gibt es hier noch?“ Es geht dabei nicht darum, den alten Fokus loszuwerden oder umzudeuten. Mitnichten, er existiert weiter, doch eher am Rande unseres Bewusstseins, während wir offen sind für das, was eben auch noch da ist. Wir sind ja durchaus in der Lage, unsere Aufmerksamkeit auf mehr als nur eine Angelegenheit zu richten. Außerdem können wir jederzeit zu einem uns vertrauten Fokus zurückkehren, uns dann wieder wegbewegen, rasch oszillieren usw.
Was kommt dabei heraus, wenn wir diesen Vorschlag auf die Begegnung mit einem „AfD-Anhänger“ anwenden? Unser Gesprächspartner versucht, unsere Aufmerksamkeit für ein Thema zu gewinnen, wahlweise die Migration, die gleichgeschaltete Presse, die Legitimität der russischen Invasion in der Ukraine, die Unfähigkeit der EU usw. Warum nicht? Das beschäftigt ihn. Es ist aber nie im Sinne der Achtsamkeit, ein Spiel einfach so mitzuspielen, sei es aus Angepasstheit oder Wut. Wir können uns auch die Zeit nehmen und schauen, was uns selbst an diesem Menschen oder an der Situation, die wir teilen, interessiert. Vielleicht gar nichts, vielleicht aber doch. Vielleicht spüren wir eine politische Verantwortung, diesen Menschen zu beeinflussen. Aber nichts verpflichtet uns, den Kontakt auf dem Terrain aufzunehmen, das er vorschlägt. Möglicherweise ist es ausgesprochen ungeeignet, etwas ballt sich in mir zusammen und mein Blick wird eng. Nehmen wir es wahr und verlassen wir den vergifteten Boden.
Ich erinnere mich an eine derartige Situation in einem bayrischen Biergarten mit einem Einheimischen, der meine Zustimmung zu einigen rassistischen Ansichten suchte, die ich ärgerlich und – so wie sie da nackt und bloß standen – uninteressant fand. Ein paar Fragen biographischer Art, nach Beruf und Verbundenheit zu seinem Heimatort führten dazu, dass er mir viele, für mich durchaus unterhaltsame und auch skurrile Geschichten erzählte. Natürlich war früher alles besser. Wollte man etwas vom Bürgermeister, so ist man zu ihm gegangen und hat sein Anliegen vorgebracht, nicht ohne ihn zu fragen, was er denn so gebrauchen könne. Mit ein paar Schreibmaschinen war die Sache geregelt. Keine Bürokratie, ein Gespräch unter vier Augen. Usw. Mit dem Fortschreiten unseres ziemlich einseitigen Gesprächs, brachte ich den ein oder anderen Zweifel an seinem wiederholten Rassismus ein. Aber mein Ehrgeiz, ihn zu überzeugen, war gering. Er hatte verschiedene Berufe gehabt und machte sich Gedanken, wie man Menschen in armen Ländern helfen könnte, damit sie doch bitte dortbleiben. Er hatte ein Problem damit, in einem Land zu leben, zu dem Einwanderung gehört und das auf sie angewiesen ist. Nur welches? Tatsächlich interessiert mich manchmal, warum jemand in seiner eigenen Welt lebt und was ihn in diese Welt gebracht hat. Mich interessieren manchmal auch andere Kulturen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Menschen oder Kulturen bewundere, wenn sie denn nur anders genug sind, auch nichts mit Reframing oder positivem Denken, überhaupt nichts mit der Suche nach dem Guten im Menschen. Julie Zeh hat so etwas in ihrem Roman „Über Menschen“ versucht. Sie zeigt die menschlichen und sympathischen Seiten von Rechtsradikalen. Eine Provokation der politischen Korrektheit. Warum nicht? Nur: Jeder Mensch ist mehr als ein fanatischer Glatzkopf, aber deswegen ist er nicht gleich insgeheim ein guter und sympathischer Mensch. Man muss nicht unbedingt jemanden verstehen, mitfühlen oder mit anderen Augen sehen, es genügt doch, sich der Komplexität zu stellen. Das verlangt von mir nicht mehr, als jemanden nicht als „AfD-Anhänger“ oder „Reichsbürger“ zu betrachten, auch wenn er das sein mag. Ich nehme eine andere Haltung ein, eine Einstellung der Leichtigkeit und Offenheit, vielleicht spürt er das sogar. Man mag Organisationen verbieten. Wenn sie menschenfeindlich sind, ist das eine sinnvolle Maßnahme. Aber Menschen sind nicht organisiert, sondern chaotisch. Rechtsradikale Überzeugungen und Verschwörungstheorien dienen dazu, das Chaos und die Ängste zu besänftigen, die die unbestreitbaren und unvermeidbaren gesellschaftlichen Umwälzungen verursachen. Aber warum sollten wir uns nicht für das Chaos oder schlicht die Vielfalt des Lebens eines fremdartigen Menschen interessieren und damit den Hintergrund eröffnen, vor dem vielleicht auch seine Flucht in schlichte Überzeugungen Sinn macht. Sogar wenn wir eine politische Agenda verfolgen, kann das eine gute Idee sein.
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