Kann man das gebrauchen oder kann es weg?

Schon lange beschäftigt mich die Idee der Eigenwerte. Man versteht darunter, die Möglichkeit, etwas oder jemandem einen Wert zuzuschreiben, der einfach nur darauf beruht, was er, sie oder es ist. Diese „Entität“ (etwas das ist) mag eine oder mehrere Funktionen für irgendjemanden oder irgendetwas erfüllen, aber ihr Wert besteht nicht darin, dass sie irgendeine Funktion erfüllt. Er beruht auf ihrem Sosein, ihrer Existenz. „Eigenwerte“ erleben wir nicht als solche, sie sind uns eher selbstverständlich, aber der Begriff findet sich in ethischen Reflexionen.[1]

Es ist möglich mit Hilfe der Haltung der Achtsamkeit Themen zu erkunden, deren Bedeutung für unser Leben uns oft nicht bewusst ist, die aber bedeutsam sein können wie „Leichtigkeit“, „Geborgenheit“, „Freiheit“, „Vergänglichkeit“ usw. Es geht dabei oft auch oder sogar vor allem um die persönliche Bedeutung des Themas: Welche Rolle spielt es in unserem Leben? Wenn wir uns auf achtsame Weise mit solchen Themen beschäftigen wollen, versuchen wir dabei möglichst absichtslos zu bleiben. Wir nehmen uns ein Thema und schauen was passiert, welche Assoziationen, inneren Bilder, Gefühle, Gedanken oder Erinnerungen sich entwickeln. Dabei regen wir an, sich nicht anzustrengen und kein Ergebnis erzielen zu wollen, also nicht im üblichen Sinne nachzudenken. Wir nehmen Erkenntnisse, Selbsterfahrungen und viele andere Wirkungen der Achtsamkeitspraxis in unseren Übungen gerne entgegen, aber wir zielen nicht auf sie. Die Absichtslosigkeit der achtsamen Besinnung soll verhindern, dass wir uns auf allzu bekannten Pfaden bewegen. In der Tradition gegenstandsbezogener Besinnungen nennen wir die Praktiken „Kontemplationen“.

Eigenwerte sind ein geeignetes Thema für Kontemplationen. Das Kontemplieren über Eigenwerte ist für fast alle Teilnehmer etwas Neues. Es ist so neu und seltsam, dass es sogar schwierig ist, das Thema vorzustellen. Die eingangs beschriebene Definition ist eine Möglichkeit zu beginnen – verbunden mit der Frage: „Gibt es so etwas – ein Mensch, eine Sache, eine Tätigkeit usw. -in Ihrem Leben?“ Meist braucht es ein Beispiel. Da es nicht gut ist, bei solchen Anleitungen zuviel vorwegzunehmen, nehme ich ein etwas exotisches Beispiel: Jemand hat ein Auto, das weder schnell noch sicher, noch ökologisch akzeptabel, noch besonders schön ist, ihm aber dennoch am Herzen liegt. Für viele Oldtimer dürfte das zutreffen. Er hängt an diesem Auto auch nicht, weil es selten ist, sondern einfach, weil es dieses Auto und eine bestimmte Beziehung zu diesem Auto entstanden ist. Aber auch ein solches Beispiel reicht oft nicht aus, denn nun beginnt die Suche nach subjektiven Gründen wie „Es ist wertvoll, weil es einfach Freude macht, damit zu fahren“, „weil es mit Erinnerungen verbunden ist“ etc. Natürlich kann etwas, das einen Eigenwert hat, Freude machen. Das ist sogar sehr oft der Fall, aber sein Wert ergibt sich nicht daraus, dass es Freude macht. Das ist ein wichtiger Unterschied. Sind z. B Kunstwerke wertvoll, weil sie Freude machen?

An dieser Stelle sind vielleicht Gedankenexperimente hilfreich: „Stellen Sie sich vor, Sie sind nicht mehr am Leben. Wir suchen etwas, dessen Zerstörung Sie trotzdem bedauern würden. Vielleicht ein solches Auto, vielleicht eine Landschaft, ein Kunstwerk, ein Mensch. Etwas, das Ihnen wichtig ist, obwohl Sie selbst nichts mehr davon haben und keine Gefühle mehr entwickeln können, das Sie aber dennoch wertschätzen und dessen Nichtexistenz Sie bedauern würden – evtl. sogar dann, wenn überhaupt kein Mensch mehr existieren würde.“ „Sie haben Kenntnis von einer abgeschieden lebenden Kultur. Sie wissen, dass diese Kultur ihnen oder unserer Kultur nicht schaden will oder kann, wenn man sie in Ruhe lässt. Sie wissen aber auch, dass sie ihnen nichts nutzt oder nichts nutzen wird. Nun wäre diese Kultur in Gefahr und wir könnten ihr leicht helfen, z. B. durch ein Antibiotikum. Würden Sie das befürworten? Warum?“ (Tatsächlich schützt Brasilien solche indigenen Kulturen im Amazonasgebiet). „Können Lebewesen, die an den tiefsten Stellen des Ozeans leben, einen Wert haben, auch wenn sie nie jemand sieht oder beforscht hat, wir also auch nicht wissen können, ob sie zu irgendetwas gut sind? Was ist mit Wildnisgebieten, die niemand betreten soll? Oder mit natürlichen Existenzformen, die bizarr und alles andere als ansprechend sind und nach allem, was wir wissen, auch keinen Nutzen haben?“

Alleine schon die Erfahrung, dass so viele Erläuterungen notwendig sind, um dieser Thematik zu folgen, finde ich ausgesprochen interessant. Ich erkläre es mir so, dass wir uns nur noch schwer aus den Klauen des „Utilitarismus“ befreien können, also nur schwer die Vorstellung überwinden können, dass alles irgendwie einen Nutzen für irgendjemanden oder irgendetwas hat oder haben muss, um wertvoll zu sein. Und sei es nur, weil es jemandem eine Freude macht oder etwas zu dem beiträgt, was wir unter Glück verstehen.

Nun liegt die Stärke der Achtsamkeitspraxis – und auf sie kommt es mir hier auch an – nicht in der Reflexion, sondern im Erleben. Sie setzt bei den Wahrnehmungen, bei unseren Beschreibungen und den Wirkungen an, die sie auf uns haben, wie wir sie spüren und wie wir mit ihnen umgehen. Kontemplationen sind daher leichter mit Achtsamkeit zu verbinden, wenn sie durch Wahrnehmungen angeregt werden. Das trifft z. B. zu, wenn wir uns in der Natur bewegen und an den Anmutungen der Landschaft orientieren. So gibt es Mulden unter Bäumen, die eher eine Geborgenheit ausstrahlen, Anhöhen, die eher zum Thema Freiheit einladen und morastige Teiche, bei denen man sich eher zu dem Thema der Vergänglichkeit eingeladen fühlt. Schaue ich aber auf meine eigene Praxis, so hat sich bei dem Thema der Eigenwerte ein anderes, direkteres Vorgehen herausgebildet: Wenn ich mich umschaue und beschließe, bewusst die Haltung der Achtsamkeit einzunehmen, so fordere ich mich dazu auf, alles, was ich sehe nur auf das hin zu betrachten, was es ist und zu schauen, ob ich eine Art Achtung oder Respekt empfinde. Das ist überall und für mich verblüffend rasch möglich. Natürlich fallen mir zunächst eine Vielzahl von Nützlichkeiten auf. Das geschieht sofort: Ein Haus hat bestimmte Vorteile und Nachteile, das Wetter ebenfalls, manches gefällt mir oder tut mir gut usw. Aber das kann ich wieder gehen lassen und mich für das Objekt – sei es eine Zimmereinrichtung, eine Straßenszene oder ein Garten – interessieren, ohne dass mir Überlegungen wie „Wozu ist es gut?“ „Schön oder nicht schön?“ etc. ernsthaft in die Quere kommen. Ich kann schwer beschreiben, wie bedeutsam dieser Perspektivenwechsel für mich ist. Er geschieht rasch und leicht und ist besonders deutlich, wenn ich gerade sehr auf Effektivität eingestellt bin. Wie immer, wenn ich in die Haltung der Achtsamkeit wechsele, macht sich ein Gefühl der Erleichterung und der Zugewandtheit breit, das ich mit Achtsamkeit verbinde. Es ist ein körperliches Gefühl, für das mir immer wieder „es durchrieselt mich“ einfällt. Das bedeutet nicht, dass mir nun alles Mögliche wertvoll erscheint, aber manches schon, vielleicht sogar erstaunlich viel. Aber anders als bei dem „interesselosen Wohlgefallen“, in dem Kant ein wesentliches Element des Kunsterlebens sah, kommt es mir auf das Wohlgefallen nicht an. Es geht auch nicht um das Besondere. Meine Beziehung zu der Umwelt und Mitwelt verändert sich zu der Stimmung und dem mit ihr verbundenen Gedanken: Wie erstaunlich ist es, die Menschen, Dinge oder Szenen wahrnehmen zu können und mit ihnen ein wenig da zu sein. Kürzlich habe ich etwas Verwandtes bei Philipp Roth gelesen. Er erzählt von einem Besuch am Grab seiner Mutter: „Meine Mutter und die anderen Toten waren hierhergebracht worden aufgrund der zwingenden Macht der Tatsache – die schließlich ein noch unwahrscheinlicherer Zufall ist -, dass sie einmal gelebt hatten.“ [2] Ich möchte mit der Empfehlung enden, mit dieser Übung zu experimentieren. Sie trifft den Kern der Achtsamkeit und motiviert, die Prioritäten und Werte kritisch zu betrachten, die in uns und um uns herum unser Leben beeinflussen.


[1] Huppertz M.: Die Kunst da zu sein, Kap. 14; Frankfurt a. M. 2022

[2] Philipp Roth erzählt in „Mein Leben als Sohn“ (1992 / 2018, S. 17) von einem Besuch am Grab seiner Mutter:
“Meine Mutter und die anderen Toten waren hierhergebracht worden aufgrund der zwingenden Macht der Tatsache – die schließlich ein noch unwahrscheinlicherer Zufall ist -, daß sie einmal gelebt hatten.“

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