Die fatale soziale Konstruktion des Alters (Teil I)

Beginnen wir mit den eindeutigen körperlichen Hinweisen auf ein höheres Alter: Die Muskeln werden weniger und das Immunsystem schwächer, was sich in der Anfälligkeit für zahlreiche Krankheiten äußert. Das Erscheinungsbild (Bindegewebe, Gang, Haare usw.) verändert sich, die Augen werden schwächer, das Gehör oft auch, die Potenz lässt nach, die Reaktionen werden langsamer. Das ist leider keine vollständige Liste. Gegen einiges auf dieser Liste lässt sich etwas tun, aber in der Jugend war für viele Menschen die körperliche Fitness eine Selbstverständlichkeit.

Nun werden aber mit dem Alter noch weitere Eigenschaften verbunden, die das Bild eines sinkenden Schiffes vervollständigen. Dabei wirkt der Wunsch des Denkens nach Kohärenz und Integration ebenso eine Rolle wie manifeste Unwahrheiten, die diesen Wunsch befriedigen und unsere Kultur geprägt haben: „Mens sana in corpore sano“ (Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper“). Ein fataler Satz: Wessen Körper schwach und missgebildet ist, muss wohl auch geistig beeinträchtigt sein. Eine häufige Bemerkung: „Er ist 87, aber geistig noch ganz fit.“ Der alte Mensch steuert auf die Demenz zu. Anzeichen für Vergeßlichkeit finden sich leicht. Der gesunde Menschenverstand gibt den körperlichen Schwächen und der Hilfsbedürftigkeit des Alters gerne auch die ein oder andere seelisch-geistige Beeinträchtigung mit auf den Weg: Ein alter Mensch baut geistig ab, weil er alt ist. Aber die Demenz ist eine schwere Erkrankung, keine Alterserscheinung. Sie kann in ihren vielen Formen auch in jungen Jahren auftreten. Die weitaus überwiegende Mehrheit der über
80-jährigen Menschen leidet nicht an einer Demenz und wird sie auch nie bekommen. Zwischen 80 und 90 leben über 80 % der Menschen ohne Demenz [1]

Aber auch dem alten Menschen, der nicht an hirnorganischen Erkrankungen leidet, wird zugeordnet, dass er weniger intensiv erlebt, weniger sinnlich ist, ein schlechtes Gedächtnis hat, in der Vergangenheit lebt, geistig schnell ermüdet, sich weniger begeistern kann und an diversen anderen kognitiven und emotionalen Einschränkungen leidet. Eine Ausnahme besteht darin, dass wir alten Menschen bisweilen mehr Weisheit zubilligen, in der Annahme, dass sie ein so geistiges Phänomen sei, dass sie geradezu vom Verfall des Körpers profitiert und in der leider auch wenig belastbaren Annahme, dass Lebenserfahrung in der Regel klüger mache.

Während wir bei jugendlicheren Behinderten heutzutage vor solchen Schlußfolgerungen zurückschrecken und bei Menschen, die blind oder taub sind, nicht mehr auf seelische und geistige Behinderungen schließen, haben wir hier bei alten Menschen weniger Probleme. Der gesunde Menschenverstand kann sich recht gut vorstellen, dass blinde Menschen auf andere Weise besonders sensibel sind oder dass Menschen, die an Muskelatrophie leiden und im Rollstuhl sitzen, ein intensives Gefühlsleben haben und sich für die Welt begeistern können. Das Alter aber steht unter dem Generalverdacht des Verlöschens.

Das hat erhebliche Konsequenzen für unseren Umgang mit alten Menschen, die wiederum unser Bild des alten Menschen prägen. Die Realität des Lebens alter Menschen als Folge der sozialen der sozialen Konstruktion des Alters bestätigt diese Konstruktion. Wir kennen das: Psychisch kranke Menschen gelten als gefährlich, wenn sie hinter dicken Mauern eingesperrt werden, Besucher, die das Elend in jüdischen Ghettos gesehen haben, fühlen sich darin bestätigt, dass es sich bei den Ghettobewohnern nicht wirklich um Menschen handelt und Flüchtlinge, die nie eine Schule besucht haben, gelten als weniger begabt. Zwei derartige Konsequenzen für alte Menschen möchte ich ansprechen:

Wieso halten wir eigentlich an einem „Rentenalter“ fest? Warum wird die Arbeitsfähigkeit mit dem Alter in Verbindung gebracht? Gibt es nicht genügend junge Menschen, die sich über eine längere Unterbrechung des Arbeitslebens freuen würden und jahrgangsalte Menschen, die gesund und munter sind, dringend gebraucht werden und gerne weiterarbeiten würden. Ist nicht gerade die Lebensphase von ca. 30-50 Jahren für viele Menschen eine Phase der Überlastung, in der sie wenig Zeit haben, ihren Interessen nachzugehen, in Ruhe zu leben und zu erleben und nicht nur zu funktionieren, die Vielfalt des Lebens und ihrer eigenen Fähigkeiten zu genießen? Nur in bestimmten Berufen wie bei Ärzten ist es üblich, auf eine Pflichtberentung zu verzichten, weil sie systemrelevant sind. Es muss doch möglich sein, ein Rentensystem zu kreieren, in dem die arbeitsfreie Zeit nicht erst im Alter vorgesehen ist, sondern schon früher beansprucht und verrechnet werden kann und in dem es andererseits keine Pflichtaltersgrenze für die Berufsarbeit mehr gibt.

Mehr als 730.000 Menschen leben in Pflegeinrichtungen, Tendenz steigend. Die meisten davon, weil sie alt sind und Hilfe im Alltag brauchen. Umfragen besagen, dass Alten- und Pflegeheime für die meistens Menschen eine erschreckende Perspektive sind. Verständlich, auch wenn die Unterschiede von Heim zu Heim groß sind. Ich selbst habe viele Heime von innen gesehen, aber in keinem einzigen hätte ich gerne auch nur eine Woche verbracht. Heime markieren den endgültigen Schritt zum „Alter“, verbunden mit Vollversorgung und Einschränkungen – von der Homogenität der Bewohner bis zu den normierten Essenszeiten. Wie würde sich das Bild des Alters selbst verändern, wenn auch alte Menschen – pflegebedürftig oder nicht – in großen Wohnungen oder kleinen Heimen mitten im Ort leben würden. Die durchschnittliche Heimgröße lag in Deutschland 2020 bei 78 Betten, viele sind wesentlich größer. Aber schon bei 10 Plätzen wird es seltsam, die Ghettobildung beginnt. Wer lebt schon dauerhaft mit 10 Gleichaltrigen zusammen? Mit über 42 % der Pflegeeinrichtungen wird privater Gewinn gemacht, viele davon gehören Aktiengesellschaften. Muss das die Gesellschaft erlauben? Man kann umso mehr Gewinn machen, umso mehr und umso größere Häuser, oft außerhalb von Ortschaften, gebaut werden und umso mehr Dienstleistungen gestellt werden. Aber niemand wird bestreiten, dass es für viele Menschen, unabhängig von ihrem biologischen Alter und ihrer körperlichen Verfassung wichtig ist, in irgendeiner Weise Sinnvolles zu tun und für sich selbst zu sorgen. Warum sollte jemand nur versorgt und geduldet werden wollen? Und warum sollte das kostensparend sein? Das Bild vom Alter als Lebensphase abnehmender Lebendigkeit trägt dazu bei, dass zunächst nach den Schwächen, der Hilfsbedürftigkeit, der Gefährdung, den ersten Anzeichen von Demenz geschaut und damit die Betreuungsmaschinerie in Gang gesetzt wird. Leider werden solche Tendenzen auch von den Betroffenen selbst übernommen. Sie prägen ihr Selbstbild und führen dazu, dass sie sich nichts mehr zutrauen und sich vor allem mit ihren Defiziten und Verlusten beschäftigen, weil es alle tun. Als würden Defizite und Einschränkungen nicht zum Leben und zu jedem Lebensalter gehören. Tapfer die Alten, die sich so lange es geht, gegen ihre Abschiebung wehren und schon dadurch zeigen, wie intensiv sie fühlen, fürchten und um ihr Leben kämpfen können.


[1] https://www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/Alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf

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