Altern mit Sinn und allen Sinnen

                    Trunken von früher Glut
                    Taumelt ein gelber Falter
                    Sitzend am Fenster ruht
                    Schläfrig gebückt ein Alter
                            (Hermann Hesse, Märzsonne)

Man sagt, das Alter sei nichts für Feiglinge.

Dahinter steckt wohl die Erfahrung, das höhere Alter bringe bei vielen Frauen und Männern mehr oder andere Beschwerden und Herausforderungen als frühere Lebensphasen. Man kann es auch als Apell verstehen: Mit Offenheit, Mut und Tatkraft auf diese späte Wegstrecke zu gehen.

Ich erlebe vier alterstypische Herausforderungen auch in dieser Reihenfolge der Bedeutung

  1. Körperliche Beschwerden und Erkrankungen
  2. Verluste und Abschiede
  3. Nachlassen der Energie, schnellere Erschöpfung und Ermüdung
  4. Eine Abkühlung oder Verdünnung der Erlebensintensität?

Mit 74 lebe ich vermutlich am Beginn oder in der Mitte der letzten Wegstrecke, bin einigermaßen gesund und recht aktiv, habe starke Arthrose in beiden Knien. Vor 10 Jahren starb überraschend meine Frau; seit acht Jahren lebe ich wieder in einer liebvoll-lebendigen Partnerschaft. Solche und ähnliche altersbedingten, oft auch mit mehr oder weniger Schmerzen verbundenen Verluste, Erkrankungen und körperlichen Abnutzungen erleben viele Altersgenoss*Innen.

Wenn Du morgens wach wirst, und nichts tut Dir weh, weißt Du, du bist im Himmel“, lautet ein beliebter Altenwitz.

Einige verlieren in diesen Zeiten Partner, durch Trennung oder Tod.  Viele verabschieden sich von ihren Arbeitsplätzen und Berufen und verlieren dadurch, manchmal von einem auf den anderen Tag, vertraute Strukturen, Anerkennung, Kolleg*Innen, aber auch Stress und Druck. Zeit und Freiheit wird gewonnen.
Ehen und Partnerschaften und die gewohnten Rollen verändern sich entsprechend.

Ein Verlust an Vitalität und Energie hängt auch damit zusammen. Viele meiner Freunde und Kolleg*Innen erzählen, dass sie mehr Zeit als früher brauchen, um sich nach anstrengenden Arbeiten, Unternehmungen wieder zu regenerieren. Das führt dazu, dass auch diejenigen, die, noch selbständig und sitzend arbeiten, dies Engagement zurückfahren, obwohl sie Befriedigung und Bestätigung daraus gewinnen.
Was vielleicht auch gut ist, schließlich wollen jüngere Kolleg*Innen Arbeitsmöglichkeiten bekommen. Man braucht mehr Zeit für sich, Ruhe, Erholung, ist schneller erschöpft.

Die 4. Hürde auf dem Altersparcours ist mit „Abkühlung“ oder Verdünnung ganz passend beschrieben, obwohl es hier die meisten Diskussionen geben dürfte, deswegen steht dort auch ein Fragezeichen.

Viele Alte sind aktiv, reisen nah und fern, singen in Chören, besuchen Konzerte, Theater, treiben Yoga, Sport, Gymnastik; und doch scheint mir: Man erwärmt und begeistert sich langsamer, anders, als in jüngeren Jahren. Gewöhnung? Konsummüdigkeit? Durchschaut man das Spektakel, den Hype? Freut sich anders?
Die Vielzahl weltbester Fußballer, Geiger, Schriftsteller und Maler amüsiert. Bei langen Anreisen zu spektakulären Events stehen Aufwand und Ertrag nicht mehr in einem guten Verhältnis. Man tut mehr aus Gewohnheit als aus Begeisterung und Leidenschaft.

In der Genesis heißt es von Abraham: Er starb alt und“ lebenssatt“. Mir scheint, der Hunger nach (Er)Leben in all´seinen Facetten nimmt langsam ab; das Leben hat gesättigt. Doch wir sind diese Reize gewohnt, wollen nicht satt sein, sondern weiter lecker essen und trinken, Hunger hin oder her.

Draufzu! Draufzu! gefeiert kann später im Himmel werden,
Patient braucht keine Ruhe, Patient braucht Reize;
dafür haben wir uns doch extra
diesen raumaufzehrenden Lebensstil zugelegt, …“
(Peter Rühmkorf, Mit den Jahren)

Veränderungen, die unvermeidlich sind, altersgemäß, wie die Pubertät, mit großen, individuellen Schwankungen. Darüber zu lamentieren, mag mal guttun, ist etwa so sinnvoll wie die Klage einer Jugendlichen über die lästige Menstruation.

                              Doch es sind Farben und Duft
                              Dünner geworden und leerer
                              Kühler das Licht und die Luft
                              Strenger zu atmen und schwerer 
                              (Herrmann Hesse, Märzsonne)

Während die ersten beiden Erfahrungen öfter besprochen werden, ist dies beim 3. und besonders beim 4. schwieriger.

Kann die Haltung der Achtsamkeit hier nützlich sein und wenn ja, wobei und wie denn genau?

Akzeptanz, vielleicht sogar radikale Akzeptanz, meint, sich gegen solche Erfahrungen nicht wehren, auch nicht verdrängen oder ablenken. Erlebens- und Empfangsbereitschaft statt Kontrolle. Achtsamkeit lädt dazu ein experimentierend und neugierig diese (auch unangenehmen) Räume zu erkunden und zu erspüren, statt sie zu vermeiden.
Solche „Erkundungen“ lohnen sich, sie machen klüger. Statt Anti-Aging ein Pro-Aging, denn in diesen antiquarischen Läden gibt es viel Lohnendes, Sperriges, Seltsames und Schönes, zu entdecken.
Das meint nicht, möglichst intensiv über Schmerzen und Leiden zu grübeln oder zu sprechen. Achtsamkeit lädt dazu ein, alle Sinne zu nutzen und zu weiten, zu spüren und wahrzunehmen, was da gerade auftaucht.

Vielleicht hängen Sinne und Sinn zusammen?

Neben, in, vor und zwischen den oben benannten vier „antiquarischen Räumen“ begegnen unaufhörlich Vasen, Leuchter und Vitrinen, Musik, Geräusche und Farben, Pflanzen und Menschen, Düfte und Aromen. Draußen erklingen Melodien, wir sehen Tiere, Wälder, Wolken, die Sonne, auch Mülltonnen, Straßenbahnen und bunte Reklame. Von innen: Gefühle, Empfindungen, Bewertungen, Gedanken.

Eine abgekühlte Alters-Abschiedlichkeit beeinflusst Wahrnehmung und Bewertung dessen, was gerade innen und außen geschieht. Vielleicht spüren wir manchmal auch Schmerzhaftes in der Freude an einer Blume, und Trauer neben der Heiterkeit, die eine Wolke erzeugt.

Früh am Morgen humple ich im März durch meinen kleinen Garten. Betrachte Krokusse, Buschwindröschen, Forsythien. Bestaune die neu geöffneten Pfirsichblüten; verweile schnuppernd und den Amseln lauschend hier und dort. Neulich, in etwas abgekühlter Stimmung, mit schmerzendem rechtem Knie setzte ich mich auf einen Stuhl und betrachtete die frisch gewachsenen Schneeglöckchen. Im leichten Wind schwangen sanft die weiß-grünen Glocken und ein Marienkäfer schaukelte sich. Er krabbelte dann flott am Stängel herunter und steuerte über die krümelige Erde die nächste Blüte an.

So etwas habe ich als junger Mann so nicht gesehen.

Eine Antwort

  1. Ulrike

    „Nicht fertig werden“ von Rose Ausländer
    Die Herzschläge zählen
    Delphine tanzen lassen
    Länder aufstöbern
    aus Worten Welten rufen
    horchen was Bach zu sagen hat
    Tolstoi bewundern
    sich freuen
    trauern
    höher leben
    tiefer leben
    noch und noch-
    nicht fertig werden!
    Dieses Gedicht von R.A. ist mir beim Lesen deiner Ausführungen eingefallen. Ulrike

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